Wir sitzen in einer Twin Otter DHC-6, einem kleinen Flieger für 20 Passagiere und nehmen Kurs auf Lukla, einen Ort in Nepal. Lukla ist zwar nicht groß, jedoch für Trekkingtouren und Expeditionen zu den höchsten Bergen der Welt von beachtlicher Bedeutung, denn hier befindet sich die letzte Piste, die für kleine Flugzeuge geeignet ist. Mit 2800m ist das Dorf ein idealer Ausgangspunkt zum langsamen Eingewöhnen an die größeren Höhen, die wohl das Ziel eines jeden Reisenden im Himalaya sind. Nach rund dreißig Minuten Flugzeit landen wir auf der extrem kurzen Landebahn, deren starke Steigung verhindert daß wir in die Felswand am anderen Ende krachen. Wir haben Mitte Oktober 2004, das Wetter ist besser als in den Wochen zuvor. Die anfänglichen Probleme mit der Zeitverschiebung haben wir bereits in den vergangenen drei Tagen in Kathmandu und zwei Tagen mit dem Kajak am Trisuli River bewältigt. Währenddessen konnten wir uns auch an die nepalesische Kultur und Mentalität gewöhnen.
Für zwei Nächte beziehen wir Quartier in der, neben dem Flughafen gelegenen, Eco Paradise Lodge, die mir von einem Freund empfohlen wurde. Die Speisekarte ist nicht mehr so umfangreich wie in der Hauptstadt, das Essen jedoch sehr gut. Ein einfacher Teig aus Mehl und Wasser ist die Grundlage für die meisten Gerichte, darin wird je nach Geschmack Fleisch, Fisch, Gemüse oder Erdäpfel eingewickelt und anschließend gedünstet oder in der Pfanne gebraten. Das Landesgericht 'Daal Baht', Reis mit Linsen und gerösteten Erdäpfeln, darf natürlich nicht fehlen .Meist gibt es noch verschiedene Erdäpfelgerichte, Yaksteak, und westliche Speisen wie Pizza, Maccaroni in mehreren Variationen sowie Pancake mit Honig oder Marmelade. Zum Frühstück darf zwischen Müsli, Porridge und Brot mit gebratenen Eiern gewählt werden, dazu Tee oder Löskaffee.
In den kleinen Läden des Ortes besorgen wir noch Lebensmittel und andere nützliche Kleinigkeiten, die wir nicht aus Kathmandu mitnehmen wollten, da unser Gepäck sowieso schon dreimal so schwer war als auf den Inlandsflügen erlaubt ist.
Wir, das sind Paul, Florian, kurz Flo genannt, und ich (Markus). Paul ist eigentlich Amerikaner aus dem südlichsten Kalifornien, lebt jetzt in Schottland und wenn er gefragt wird: "Where are you from?", dann sagt er ohne viel nachzudenken: "I'm scottish". Kennengelernt habe ich den jetzt 50jährigen zwei Jahre zuvor im Cafe Andino in Huaraz in Peru, bei bestem frisch gerösteten Kaffee. Damals haben wir auch gleich einen Sechstausender, den Chacraraju, probiert, mußten allerdings wegen schlechter Schneeverhältnisse, unverrichteter Dinge, fünfhundert Meter unterhalb des Ostgipfels umkehren. Flo ist dreiundzwanzig, wir kennen uns vom Paddeln und sind oft gemeinsam unterwegs. Nach den zwei Monaten in Nepal wollen wir gemeinsam weiterreisen, in Neuseeland warten jede Menge Flüsse darauf, von uns mit Wildwasserbooten befahren zu werden. Natürlich ist Flo den Bergen nicht abgeneigt, deshalb hat er sich spontan unserer Reise zu den höchsten Bergen der Welt angeschlossen, da der Wiener Stadtschulrat momentan sowieso keinen Arbeitsplatz als Lehrer für ihn hat.
Pauls Magen ist nach dem letzten Abendessen in Kathmandu etwas verstimmt. Darum beschließen Flo und ich nur zu zweit ins Gokyotal zu wandern, Paul will nach einem weiteren Genesungstag mit den Trägern samt unserem restlichen Expeditionsgepäck direkt durch das Chumbutal unserem Berg entgegen gehen. Etwa in einer Woche möchte ich ihn dann in Lobuche oder Gorak Shep für die Besteigung des Pumo Ri treffen.
Flo und ich nehmen nicht allzuviel mit, ein Träger reicht, um den knapp 30kg schweren Rucksack auf seine Korbtrage zu schnallen und uns zu begleiten. Wir selbst tragen nur unsere Schlafsäcke, etwas Kleidung und Wertgegenstände wie Kameras. Die erste Etappe führt uns dem Dudh Kosi River entlang durch etliche kleine Siedlungen, die hauptsächlich aus Beherbergungs- und Gastbetrieben bestehen. Yaks und Träger befördern die Lasten für Trekkinggruppen, Dorfbewohner und Lodges auf den staubigen Pfaden. Beim Überholen ziehe ich oft mein Halstuch über Mund und Nase, damit meine Lunge etwas geschont wird und ich mir ein paar Hustenanfälle erspare. Die letzte Steigung zu dem in einen Berghang gebauten Ort ist selbst mit unseren relativ leichten Rucksäcken sehr anstrengend und der Träger meint immer wieder: "bistari, bistari" - was soviel heißt wie "langsam, langsam". Dank dieser letzten vierhundert Höhenmeter wissen wir jetzt auch, warum diese Strecke meist in zwei Tagen bewältigt wird.
Namche Bazaar, auf 3300m, ist der bedeutendste Ort im Tal mit vielen Lodges und der letzten sinnvollen Möglichkeit per Telefon oder Email mit der Aussenwelt Kontakt aufzunehmen. Der traditionelle tibetische Markt und die vielen kleinen, auf Touristen eingestellten Geschäfte, bieten beinahe die selbe Auswahl an NorthFake und anderen meist recht offensichtlich gefälschten, aber dennoch recht guten und preiswerten Bergsteigerrequisiten, wie in Kathmandu.
Der zweite Tag sollte etwas entspannter und kürzer sein. Alleine sind wir hier nicht, Touristen aus allen Gegenden der Welt sind unterwegs zum Gokyo Ri, dem beliebten Aussichtsberg hinter der letzten Siedlung im Tal. Meist sind die Trekker mit Trägern und einem Sirdar unterwegs. Das ist ein Führer, der jedoch, in unseren Augen jedenfalls, auf den ausgetretenen und unverfehlbaren Wegen kaum Sinn macht.
Ein erster Blick zur Ama Dablam - wir sind beeindruckt. Genau wie viele sagen, ist sie einer der schönsten Berge der Welt, das ursprüngliche Ziel von Paul und mir. Da wir von Europa aus jedoch keinen Platz auf einem Permit einer anderen Expedition bekommen konnten und ein Permit für uns alleine zu teuer war, müssen wir auf einen anderen Berg ausweichen, das heißt jedoch nicht, daß unser neues Ziel weniger interessant ist. Vielleicht weniger bekannt und technisch nicht so schwierig, dafür aber etwas höher und somit ein Siebentausender, der Pumo Ri. Einige Kilometer nach Namche gabelt sich der Weg. Vor uns steht der knapp sechseinhalbtausend Meter hohe Tawoche Peak, an dessen Fuß der Hauptweg ins Chumbutal Richtung Everest zieht, westlich liegt das Gokyotal mit dem Cho Oyu. Wir nehmen die Abzweigung Richtung Gokyo über den Monglapaß (4000m), wo wir in einem der Teehäuser zu Mittag essen und die Sonne genießen. Zunächst folgt ein Abstieg über dreihundert Höhenmeter, bevor wir uns den steilen Weg nach Dole, (4000m) hinaufkämpfen, um im erstbesten Quartier unser Lager zu beziehen.
Die Lodges sind sehr einfach, mit schmalen Betten in kleinen Zimmern für zwei bis drei Leute und Lagern für circa sechs bis fünfzehn Leute, die meist von Trägern genutzt werden. Oft schlafen die Träger und Sirdar auf den Bänken oder am Boden im Essraum, in dessen Mitte immer ein einfacher Ofen steht, der mit Yakchapatis, das ist eine liebevolle Formulierung für Yakkot, befeuert wird. Die Isolierung der Hütten ist meist recht dürftig und nach Sonnenuntergang oder wenn Wolken hereinziehen, sitzen wir meist mit Fleecejacken auf den Bänken, die den Raum säumen, trinken Tee und warten, bis der Ofen heiß genug ist, um uns zu wärmen.
Der nächste Ort für eine Nächtigung ist Machhermo, wir machen nur eine längere Mittagsrast und gehen bis Pangla. Abwechselnd leicht bergauf, bergab gewinnen wir fünfhundert Meter Höhe. Nicht ganz ausgelastet beschließen wir, den Ausläufer eines Grates zu besteigen, der von einem 5273m hohen im Westen gelegenen Hügel herabzieht. Schließlich packt mich der Ehrgeiz und ich besteige meinen ersten nepalesischen Fünftausender. Der zweite folgt gleich am nächsten Tag. Wir lassen unser Gepäck in Gokyo (4780m), wo wir uns auch von unserem Träger verabschieden und den Gokyo Ri mit 5357m besteigen. Wie auch am Vortag spüre ich auf den letzten dreihundert Meter die Höhe ein wenig. Unser Tempo wird langsamer und ein ganz leichter Höhenkopfschmerz ist spürbar, aber kein Grund zur Sorge. Die Aussicht entschädigt uns gebührend für die Mühe und wir sitzen fast zwei Stunden am Gipfel, umringt von vielen namhaften Gipfeln wie Cho Oyu, Everest, Lhotse, Nuptse, Makalu und Ama Dablam. Zwei ältere Damen aus der Schweiz freuen sich mit uns über ihren Gipfelsieg und schenken uns Kekse.
Bei der Rückkehr in die Lodge muß ich feststellen, daß meine Stirnlampe im vorigen Quartier liegengeblieben ist, deshalb unternehme ich noch einen ausgiebigen Abendspaziergang nach Pangla. Den batteriebetriebenen Lichtspender finde ich wie vermutet unter dem Bett. Am Weg treffe ich einige Leute, ein Japaner hat Höhenprobleme und wird von einem Nepali auf dessen Rücken hinuntergetragen.
Ohne Träger, das Gepäck auf unsere Rücken aufgeteilt, brechen wir zum Chumbutal auf. Zuerst ein kurzes Wegstück zurück Richtung Pangla, dann nach Osten mühsam über Moränen, entlang von riesigen Wasserbecken, die sich im Eis gebildet haben, den schuttbedeckten Gletscher querend, durch unübersichtliches Gelände und weißen, auf dem Eis abgelagerten, Sanddünen nach Dragnang (4700m). Eine kurze Teepause später schultern wir die anscheinend immer schwerer werdenden Rucksäcke und finden dreihundert Meter höher einen netten Zeltplatz an einem teilweise gefrorenen Bach. Unsere erste Nacht im Zelt und gleichzeitig unsere erste Nacht auf fünftausend Meter Höhe mit Selbstversorgung. Während Florian das Zelt aufstellt, entsteht auf dem kleinen Gaskocher Suppe, ein Nudelgericht und Tee. Rund um uns nur Berge mit weissen Spitzen. Im Norden die Kachung Peaks, im Südosten Arakamtse und Cholatse, beides über sechstausend Meter hohe Berge, die eine Besteigung wert sind. Die Sonne verschwindet hinter einem Grat, weshalb wir bald vor den weit unter Null Grad Celsius sinkenden Temperaturen in unsere dicken Daunenschlafsäcke flüchten.
Die Sonne geht auf, ist aber zu schwach um uns wirklich zu wärmen. Wir warten noch etwas, bevor wir Frühstück zubereiten und und wieder unsere Rucksäcke packen. Unser Tagesziel ist der Chola Paß mit 5300m, wie weit wir anschließend weitergehen, wollen wir erst beim Abstieg ins Chumbutal auf der anderen Seite des Paßes entscheiden. Das Gewicht der Rucksäcke wird unerträglich, der steile Anstieg zum Paß, über eine grobblockige Granithalde, scheint endlos. Trekkinggruppen kommen entgegen, wir überholen eine andere Gruppe und werden auch selbst von anderen überholt. Am höchsten Punkt angekommen, verfluchen wir den “Nepal Lonely Planet”, jenen Reiseführer, in dem steht, daß für diese Route die Mitnahme von Pickel und Steigeisen notwendig sei, und man auch mit deren Anwendung vertraut sein sollte. Der Abstieg auf der anderen Seite führt zwar über Schnee und Gletscher, der Weg ist jedoch so stark frequentiert, daß immer eine gute Spur vorhanden ist und wir hoffnungslos überausgerüstet den Trampelpfad hinunterlaufen. Etwas müde und mitgenommen machen wir Pause in Dzonghla und beschließen gemeinsam mit drei Australiern nach Periche weiterzugehen. Der Abstieg ist nicht viel weniger mühsam als der Aufstieg, nur daß die Schwerkraft mithilft. Der Weg nimmt kein Ende. Selbst im Talgrund angekommen, gehen wir noch Ewigkeiten und schimpfen ausgiebig über unsere Lasten. Gegenüber die Ama Dablam, zum Greifen nahe, nördlich davon der Nuptse. Das letzte Stück bis Periche legen wir im Dunklen zurück. Als wir die Lodge erreichen, sind wir glücklich, die Säcke ablegen zu können, Unmengen an Tee zu trinken und die Küche auf trapp zu halten. Am Ofen sitzen nur wenige Leute, unter anderem der Arzt der benachbarten Himalayan Clinic, der uns erzählt, am selben Tag bereits einen Engländer getroffen zu haben, der mit zwei Österreichern unterwegs ist... Während wir über das verdiente Essen herfallen, geht der Doktor in eine andere Herberge um den Engländer zu suchen. Kurz darauf steht tatsächlich Paul vor uns. Das Timing ist reiner Zufall, aber perfekt. Eigentlich hätte ich mit dem Zusammentreffen erst zwei bis drei Tage später gerechnet.
Es folgt ein freudiges Erzählen der Erlebnisse der letzten Woche und schließlich die Planung für die nächsten Tage. Flo hat aus Kostengründen kein Permit für den Pumo Ri und will mit den drei Australiern, die wir am Vortag kennengelernt haben, den Island Peak besteigen. Paul und ich beschließen, gleich am nächsten Morgen nach Lobuche weiterzuwandern, und versuchen über den Lodgebesitzer einen zusätzlichen Träger zu organisieren, der mein Gepäck in den nächsten beiden Tagen bis ins Basislager tragen soll. Dazwischen verlange ich zum Erstaunen aller Anwesenden immer wieder die Speisekarte um nepalesische Köstlichkeiten zu bestellen, um meinen knurrenden Magen zu besänftigen.
Da Flo nicht mit uns weitergeht, verbringen wir den folgenden Vormittag mit Auseinandersortieren des Materials, und anschließend mit dessen Aufteilung in gleiche Trägerladungen. Letztendlich taucht unser dritter Träger nicht auf und wir müssen eine Alternative finden, was sich als gar nicht so einfach herausstellt. Gegen Mittag erklärt sich ein vorbeikommender Yaktreiber bereit unser restliches Gepäck zumindest bis Lobuche zu bringen, dort müssen wir erneut einen Träger für die letzte Etappe bis ins Basecamp suchen. Der staubige Weg führt linksufrig des hier noch sehr kleinen Dudh Kosi durch ein flaches U-Tal, bevor er steiler wird, Moränen überwindet und nach einem kleinen Sattel, der mit gravierten Steintafeln und den typischen Gebetsfahnen übersäht ist, wieder flacher nach Lobuche führt. Lobuche liegt auf 4900m und ist der Ausgangspunkt für den beliebten gleichnamigen gut sechstausend Meter hohen Trekkinggipfel. Das ist auch der Grund, warum alle Quartiere ausgebucht sind und wir gerade noch das letzte Zimmer in der Namaste Lodge bekommen. Über Nacht fällt etwas Schnee, eisiger Wind fegt durch das Tal. Am nächsten Morgen lassen sich unsere frisch gewaschenen, gefriergetrockneten Socken nur mit Gewalt falten und einpacken. Wieder einmal haben wir grandioses Wetter, der frisch gefallene Schnee ist in wenigen Stunden durch die warmen Sonnenstrahlen geschmolzen. Ein klein gewachsener stämmiger Bursche übernimmt unsere dritte Ladung.
Gorak Shep ist die letzte Siedlung auf ungefähr 5140m, die nur aus drei Teehäusern und einem Shop besteht. In einem mit Plexiglas verkleideten Nebengebäude, mit Ausblick auf die Nuptse Südwestwand, essen wir zu Mittag, bevor wir über Sand, verdorrte Wiesen und unübersichtliche Moränen mit riesigen Felsblöcken zum Dried Lake weitergehen.
An dem von Sedimenten braungrau gefärbten See haben bereits einige andere Expeditionen ihre Basecamps aufgeschlagen und belagern den Pumo Ri, dessen 7145m hoher Gipfel auch unser Ziel ist. Den restlichen Tag verbringen wir mit dem Aufstellen unserer Zelte, kochen, essen und plaudern. Die Temparatur fällt mit Einbruch der Dunkelheit und dem stärker werdenden Wind unter -30 Grad Celsius. Die Kälte in unserem pyramidenförmigen Küchenzelt, das ohne Boden über einer ringförmigen Steinmauer aufgespannt ist, bewegt uns schnell dazu, unsere Schlafstätten aufzusuchen und in unsere warmen Federhüllen zu kriechen.